Im letzten Quartal hat meine Deutschklasse das Buch Nathan der Weise von Gotthold Ephraim Lessing gelesen und besprochen. Das Buch handelt von Nathan, einem Juden, der nach Jerusalem zurückkehrt und im Verlaufe der Geschichte mit diversen Personen interagiert, welche unterschiedliche Auffassungen von Religion und deren Auslebung haben. Nathan lebt Religion so aus, wie Lessing eine ideale Auslebung versteht. Denn laut Lessing wären jegliche Religiöse Konflikte gelöst beziehungsweise würden gar nicht erst entstehen, wenn alle ihre Religion so ausleben würden wie Nathan der Weise. Im Theaterstück klärt Nathan der Weise nacheinander diverse Personen auf die laut Lessing ihre Religion nicht so ausleben, dass ein Religiöses Zusammenleben funktionieren kann. Unter diesen Personen befindet sich auch Saladin, der Herrscher über den Schauplatz des Stückes: Jerusalem.
Das Stück spielt zur Zeit des dritten Kreuzzuges während einem Waffenstillstand zwischen den Christen und den Muslimen. Jerusalem ist zu diesem Zeitpunkt ein religiöser Schmelzpunkt, in dem Judentum, Christentum und der Islam aufeinanderprallen. Dies führt logischerweise zu diversen Konflikten, auf welche Lessing im Theaterstück eingeht und zu denen er Lösungsvorschläge bietet. Eine Zentrale Frage, die dabei aufkommt, ist, wie die Herrschaft über einen solchen Schmelzpunkt geregelt werden soll.
Der im Stück über Jerusalem herrschende Saladin wird trotz den anhaltenden Konflikten mit den Christen als ziemlich tolerant dargestellt. Er erlaubt das Ausüben unterschiedlicher Religionen in Jerusalem und gewährt sogar politischen Gegnern wie dem Patriarchen, dem religiösen Oberhaupt der Christen dieser Region, sich in Jerusalem aufzuhalten.
Saladin ist zwar zu Beginn des Stücks noch nicht der perfekte Herrscher, er ist jedoch genügend offen gegenüber anderen Religionen, sodass er sich durch Nathan einem Juden aufklären lässt. Im dritten Akt wird Saladin nämlich durch Nathan den Weisen mit der berühmten Ringparabel aufgeklärt. Diese sagt aus, dass es keine Rolle spielt welche Religion die wahre ist, sondern dass sich alle Religionsangehörigen so verhalten sollen, dass ihre Religion «vor anderen angenehm macht». Denn dies sei das eigentliche Ziel aller Religionen.
Saladin ist für Lessing gegen Ende der Geschichte ein Beispiel für einen guten Herrscher über einen Ort wie Jerusalem. Somit kann basierend auf Saladin analysiert werden, welche Eigenschaften ein Herrscher oder eine Regierung laut Lessing aufweisen muss, damit das friedliche Zusammenleben der Religionen in einem Herrschaftsgebiet möglich ist.
Lessing stellt Saladin als sehr offen und tolerant dar. Dies sind sehr grundlegende Anforderungen an eine Regierung, da sonst religiöse Konflikte auf Grund der Regierung quasi vorprogrammiert sind. Denn eine nichttolerante Regierung wird mit ziemlicher Sicherheit andere Religionen in irgendeiner Weise unterdrücken. Dies wird dann wiederum zu einer Reaktion der unterdrückten Religionen führen. Somit entstehen Konflikte zwischen der Regierung und den Religionen, welche ziemlich schnell eskalieren können.
In Nathan der Weise ist nur eine Religion in der Regierung vertreten: Nämlich der Islam. Für Lessing stellt dies nicht unbedingt ein Problem, denn wenn alle ihre Religion so ausüben wie Nathan, kann ein friedliches Zusammenleben auch funktionieren, wenn nur eine Religion in der Regierung vertreten ist. Hier liegt jedoch ein Problem: Die Annahme, dass es jemals möglich ist, dass alle Menschen ihre Religion so wie Nathan ausleben ist viel zu idealistisch und daher unmöglich zu erreichen. Wenn die von Lessing vorausgesetzte erforderliche Auslebung der Religion in der Bevölkerung nicht gegeben ist, funktioniert meiner Meinung nach die alleinige Herrschaft einer einzigen Religion nicht, da es früher oder später Menschen geben wird, welche sich auf Grund ihrer Religion ungerecht behandelt fühlen. Dies passiert meiner Meinung nach auch dann, wen eine Regierung noch so gerecht ist. Denn schon allein der Fakt, dass die eigene Religion nicht in der Regierung vertreten ist, kann eine gewisse Abneigung gegenüber dieser auslösen.
Dies wird dazu führen, dass oppositionelle Fanatiker wie in Nathan der Weise der Patriarch an Anhängern gewinnen werden. Denn diese fordern unter anderem das Einbinden der eigenen Religion in die Regierung. Jedoch haben Fanatiker wie der Patriarch die Tendenz ihre Anhänger zu radikalisieren und dadurch wird es früher oder später zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den sich unterdrückt fühlenden Anhänger der Religion kommen.
Ich stelle somit die These in den Raum, dass das friedliche Zusammenleben der Religionen auf lange Frist nur dann funktionieren kann, wenn alle Religionen in der Regierung vertreten sind und sich durch diese in einer gewissen Weise vertreten fühlen.
Denn wenn dies der Fall ist, verlieren Religiöse Extremisten, welche es leider immer geben wird, an Einfluss, da sich die Massen ihnen nur dann zuwenden, wenn sie sich von der momentanen Regierung nicht repräsentiert fühlen. Es währe sehr schön, wenn ein Religiöses zusammenleben auch dann funktionieren könnte, wenn nur eine Religion in der Regierung vertreten ist. Leider fehlt mir jedoch der Glaube an die Menschheit, dass dies jemals möglich sein könnte und daher teile ich die idealistische Ansicht von Lessing nicht, das dies möglich ist.