Erinnere dich einmal an das letzte Buch zurück, welches du gelesen hast und welches einen homosexuellen Protagonisten oder eine homosexuelle Protagonistin hatte.
Hattest du Schwierigkeiten dich an ein Buch zu erinnern, in dem die Hauptperson homosexuell war?
Wenn du dich nicht bewusst mit dem Thema auseinandergesetzt hast, hattest du vielleicht Schwierigkeiten, dich an eine Homosexuelle Hauptfigur zu erinnern. Keine Sorge, du wirst sicherlich nicht die einzige Person sein, der es so geht. Dieser Effekt, dass viele Leute Schwierigkeiten haben, sich an eine homosexuelle Hauptfigur zu erinnern, ist auch nicht erstaunlich, so sind doch schon alleine statistisch gesehen die meisten Hauptcharaktere nicht homosexuell. Ich bezweifle jedoch, dass dieser Effekt alleinig durch das weniger frequente auftreten homosexueller Charaktere in der Literatur verursacht wird. Die Literatur im Verlaufe der Geschichte scheint nämlich von einer gewissen Tabuisierung der Homosexualität geprägt zu sein. Diese Tabuisierung bezieht sich nicht auf das Verhältnis von homosexuellen gegenüber heterosexuellen Charakteren in der Literatur, denn entgegen meiner Erwartung finden sich ziemlich viele homosexuelle Hauptcharaktere, sondern auf die Art und Weise, wie ihre Sexualität beschrieben oder vielmehr umschrieben wird. Oft wird die Homosexualität nämlich nicht direkt angesprochen, sondern nur angedeutet. Dies führt in diversen Werken zu einer gewissen Vagheit, ob Charaktere nun wirklich homosexuell sind oder nicht: Ein Phänomen, auf welches du beim Nachdenken über meine erste Frage vielleicht sogar gestolpert bist.
Bist du dir nicht sicher, ob die Protagonistin oder der Protagonist eines Buches tatsächlich homosexuell war?
In der Literatur finden sich oft Figuren, bei denen nicht klar ist, wie ihre Sexualität zu deuten ist. Dies wird hauptsächlich dadurch ausgelöst, dass es im Verlaufe der Geschichte oft nicht sehr angesehen war, Sexualität explizit auszudrücken.
«Für die Literaturgeschichtsschreibung ergibt sich daraus, dass Sexualität in der Literatur entweder überhaupt nicht vorkommt oder keine für die literarische Darstellung bedeutende Rolle spielt […] Dies gilt in potenzierter Weise für die mann-männliche Sexualität.» - Wolfgang Pop
Für Charaktere, welche als heterosexuell konzipiert wurden, stellt dies kein Problem dar, denn in einer heteronormativen Gesellschaft – was im verlaufe der Geschichte eigentlich immer der Fall war – werden Charaktere, deren Sexualität nicht evident ist, automatisch als heterosexuell gewertet. Bei homosexuellen Charakteren hingegen muss die Sexualität angedeutet werden und da die Tabuisierung von Sexualität bei Homosexualität noch stärker ist als ohnehin schon, sind die Andeutungen oft sehr versteckt oder ambivalent.
Diese Tabuisierung der Homosexualität in der Literatur will ich nun anhand des Buches «Berlin Alexanderplatz» aufzeigen.
Die Handlung von «Berlin Alexanderplatz» folgt dem Protagonisten Franz Biberkopf, welcher zu beginn der Handlung aus dem Gefängnis Tegel in Berlin entlassen wird. Wir folgen dem Protagonisten, wie er versucht, sich wieder in das Grossstadtleben der 20er in Berlin einzuleben. Im Verlaufe der Geschichte findet Franz einen Freund: Reinhold. Mit diesem macht Franz bald schon einen Deal, und zwar, dass Franz Reinhold seine Freundinnen abnimmt, sodass dieser sich jeweils neue holen kann. Die weitere Geschichte ist geprägt von diversen Schlägen, welche Franz treffen (so wird er zum Beispiel von Reinhold hintergangen) und endet mit einer Art Wiedergeburt Franz Biberkopfs.
Auch wenn die Beziehung zwischen Franz und Reinhold auf den ersten Blick rein platonisch zu sein scheint, gibt es diverse Hinweise, dass dem nicht so ist.
Einerseits gibt es einige Handlungselemente, welche sich am besten durch eine homosexuelle Neigung Biberkopfs erklären liessen. Da wäre zum Beispiel der Frauentausch, der mit einer unzureichenden sexuellen Befriedigung von Reinhold und Franz durch Frauen bedingt sein könnte. Andererseits finden sich diverse Textpassagen, die man als Andeutung für Franz Biberkopfs Homosexualität deuten kann.
«Und am innigsten […] liebt er [Franz] zwei: die eine ist seine Mieze […] der andere ist – Reinhold.» - Berlin Alexanderplatz s. 334
Trotz der vielen Andeutungen erhalten wir die Homosexualität von Franz und Reinhold nie Schwarz auf Weiss. Dies kann sehr gut mit der etablierten Tabuisierung von Homosexualität in der Literatur begründet werden. Auch der Werdegang der homosexuellen Charaktere im Buch scheint der Tabuisierung zu unterliegen.
«Je näher und eindeutiger sie [die literarische Darstellung des mann-männlichen Eros] in den Bereich des Sexuellen kommt, desto klarer muß sie zumindest dartun, daß es sich um schuldhaftes, verwerfliches, strafwürdiges Verhalten der Protagonisten handelt» - Wolfgang Pop
Denn homosexuelle Charaktere werden in der Literatur oft für ihre Sexualität bestraft. Zwar wird Franz nicht direkt für seine Homosexualität bestraft, seine fast unzerstörbare Ergebung gegenüber Reinhold führt jedoch immer wieder zu Schlägen, was durchaus als eine Bestrafung für die Homosexualität gedeutet werden könnte.
Berlin Alexanderplatz kann also als Paradebeispiel für die Tabuisierung von Homosexualität in Literatur angesehen werden. Denn die erwähnten Phänomene sind alle auf die ein oder andere Weise im Buch vorzufinden. Jedoch ist die erwähnte Darstellung der Homosexualität in Berlin Alexanderplatz nicht nur durch literarische good practice bedingt, sondern auch durch die drastische Verurteilung der Homosexualität in den 20er in Deutschland. Welche ziemlich sicher einen Einfluss auf die Darstellung der Homosexualität durch Döblin, dem Autor des Buches, hatte.